![Friedrichstraße, Berlin Blick auf die Friedrichstraße von Kaufhaus Dussmann nach Norden.](https://stadtundwirtschaft.de/wp-content/uploads/2025/02/friedrichstrasse_ezh-678x381.jpg)
Zentrale Lagen im Wandel, der Einzelhandel unter Druck. Angesichts vieler offener Fragen rund um die Zukunft der Innenstädte müssen auch die entsprechenden Planungskonzepte an neue Realitäten angepasst werden. Ein Debattenbeitrag von Dr. Joachim Will.
Kommunale Einzelhandelskonzepte sind Konzepte im Bereich des Städtebaus und der Raumordnung, in denen planerisch festgehalten ist, nach welchen Vorgaben und Zielsetzungen sich der Einzelhandel in einem geographischen Raum entwickeln soll. Bei alle diesen Konzepten liegt ein besonderer Schwerpunkt der Analyse auf den innerstädtischen Einkaufslagen. All diese Konzepte sind von der Zielvorstellung getragen, die Einzelhandelsfunktion der zentralen Geschäftslagen zu stärken und – nach Möglichkeit – negative Auswirkungen durch Einzelhandelsansiedlungen an dezentralen Lagen auf die Innenstädte zu vermeiden.
![](https://stadtundwirtschaft.de/wp-content/uploads/2025/02/will_portraitfoto.jpg)
Über den Autor: Dr. Joachim Will ist Gründer und Geschäftsführer der ecostra GmbH in Wiesbaden, einer Unternehmensberatung im Bereich der gewerblichen Immobilienentwicklung. Im Auftrag internationaler Handelsunternehmen, Projektentwickler und Investoren sowie für Städte, Gemeinden und Regionen erstellt ecostra u.a. Einzelhandelskonzepte, Wettbewerbs- und Standortanalysen. Neben den Einkaufslagen in den Innenstädten sind dabei auch Shoppingcenter, Nahversorgungszentren oder Outlet-Center Untersuchungsgegenstand. Zu diversen Themen rund um die (europaweite) Markt- und Standortentwicklung im Einzelhandel hält Dr. Will regelmäßig Fachvorträge bei Tagungen und Fachkongressen. Mehr Informationen auf der > Homepage von ecostra
Es handelt sich bei den kommunalen Einzelhandelskonzepten um ein planerisches Steuerungsinstrument. Diese Konzepte sind den sog. „informellen“ städtebaulichen Planungen zuzuordnen und stehen somit neben den „förmlichen“ Bauleitplänen (Flächennutzungsplan, Bebauungspläne). Sie haben denselben rechtlichen Status wie z.B. kommunale Konzepte zur Verkehrsentwicklung, zur Gewerbeansiedlung oder zum Wohnungsbau. Damit sind die Vorgaben und Zielaussagen – einmal vom Stadt- oder Gemeinderat beschlossen – zwar nicht unüberwindlich, aber meist orientiert sich die kommunale Planung bei Genehmigungsverfahren zur Neuansiedlung oder Erweiterung von Handelsbetrieben doch sehr stark an dem jeweiligen Konzept, insbesondere an dessen Festlegung von zentralen Versorgungsbereichen und der Sortimentseinteilung in zentren- und nicht-zentrenrelevante Warengruppen. Zwischenzeitlich dürfte fast jede Stadt oder Gemeinde in Deutschland über ein solches Einzelhandelskonzept verfügen. Ob immer aktuell und in welcher Qualität bearbeitet, steht auf einem anderen Blatt und ist nur im Einzelfall zu bewerten.
Das bisherige Paradigma
Ob kommunales oder regionales Einzelhandelskonzept, alle sind v.a. getragen vom Gedanken der Versorgung der Bevölkerung mit Waren und Dienstleistungen. Dies gilt genauso für die überörtliche Planung, sei es die Region oder die Ebene des Bundeslandes. Die Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse gilt als zentrale Leitvorstellung der Raumordnung. Mit dem hierarchischen System der zentralen Orte und den diesen zugewiesenen, abgestuften Versorgungsfunktionen gerade auch für Einzelhandelswaren sollen die gleichwertigen Lebensverhältnisse so gut wie irgend möglich erreicht werden. Dem zugrunde liegt der klassische Gedanke an einen physischen Marktplatz, auf dem Angebot und Nachfrage zusammen-treffen und auf dem der Handel mit den entsprechenden Waren stattfindet. Durch räumliche Steuerung sollen diese Marktplätze entwickelt, stabilisiert und erhalten werden. Wie das im Einzelnen erfolgen soll, regelt dann das jeweilige Einzelhandelskonzept. So weit, so gut!
Digitalisierung schafft eine neue Realität
Allerdings trifft dieser physische Marktplatzgedanke auf eine neue Realität, die von einer stark fortschreitenden Digitalisierung geprägt ist. Die Verbraucher haben – unabhängig davon, ob der Wohnort eine Großstadt oder ein kleines Bergdorf ist – heute über das Internet die Möglichkeit, sich zu einem Warenangebot zu informieren und auf dieses zuzugreifen, das in dieser Breite und Tiefe nicht einmal in London oder New York erhältlich ist.
![Passanten sitzen auf einer Bank im Bikini-Berlin Shoppingcenter.](https://stadtundwirtschaft.de/wp-content/uploads/2025/02/20241220_175917-1024x575.jpg)
Das Online-Shopping ist hinsichtlich…
- der Auswahlvielfalt unschlagar,
- aber auch hinsichtlich der Möglichkeit und Geschwindigkeit, sich einen möglichst umfassenden Überblick über das Gesamtangebot zu verschaffen, unschlagbar, und schließlich auch
- im Hinblick auf das Preisniveau unschlagbar.
Es kommen weitere Stärken des Online-Handels hinzu: Die Beratungsintensität gewinnt nicht nur durch übersichtliche Auflistungen, sondern auch durch eine Vielzahl von Kundenbewertungen. Auch hinsichtlich der Transaktionskosten erscheint der Online-Handel nahezu unschlagbar. Der Käufer muss nicht mehr in die Innenstadt oder zu irgendwelchen Einkaufsorten fahren, denn die Ware wird ihm nach Hause geliefert. Und das mit einer zwischenzeitlich enorm ausgefeilten Logistik. Bestellen kann man jederzeit, auch sonntags oder in der Nacht. Im Wettbewerb um Convenience hat der Online-Handel somit keine schlechten Karten. Dazu kommt, dass die Bedeutung der Ware an sich gesunken ist. Eine Ware ist heute nicht nur ubiquitär verfügbar, sondern auch hinsichtlich ihrer Bezugsquellen austauschbar: das Produkt ist physisch dasselbe, egal ob dieses im innerstädtischen Fachhandel, im Shoppingcenter, Fachmarktzentrum oder bei einem Online-Shop gekauft wird. Zwar hat auch der stationäre Handel seine Stärken, aber der Online-Handel hat eine starke Wettbewerbsposition.
![](http://stadtundwirtschaft.de/wp-content/uploads/2025/02/1665251916900-1024x461.jpg)
Verbraucherverhalten führt zu Marktanteilsverschiebungen
Dies hat zweifelsohne Rückwirkungen nicht nur auf das Einkaufsverhalten der Bevölkerung, sondern auch auf die Versorgungsfunktionen bestimmter Geschäftslagen und Vertriebskanäle des Einzelhandels. Und auch Rückwirkungen auf essentielle Fragen der Stadtentwicklungsplanung und der Raumordnung. Bei nahezu sämtlichen Waren, welche nicht unmittelbar der Nahversorgung (Lebensmittel, Drogeriewaren etc.) zuzurechnen sind, ist der Online-Handel augenscheinlich besser in der Lage, gleichwertige Lebensverhältnisse herzustellen und einen entsprechenden Versorgungsauftrag zu erfüllen als der stationäre Handel. Der Wohnort selbst spielt hier keine Rolle mehr; vielmehr ist entscheidend, ob ein guter und stabiler Internet-Breitbandanschluss vorhanden ist. Dies ist eine der Lehren, welche gerade auch in der Phase der Corona-bedingten Lockdowns gezogen werden konnte. Vielleicht etwas überspitzt könnte behauptet werden, dass der Online-Handel wesentlich zu einer räumlichen Demokratisierung des Konsums beigetragen hat.
Online-Marktanteil bei Mode bereits bei knapp 40 %
Nach Angaben des HDE Online Monitor hatte das Online-Shopping in Deutschland im Jahr 2023 einen Marktanteil am Einzelhandel im engeren Sinne von ca. 13,2 % (2015 noch ca. 8,3 %); in der innerstädtischen Leitbranche Fashion & Accessoires lag der Marktanteil 2023 bereits bei ca. 41,8 % (2015 ca. 21,4 %). Es bestehen wenig Zweifel, dass diese Marktanteilsgewinne des Online-Handels und die entsprechenden Umsatzverlagerungen gerade den innerstädtischen Einzelhandel einem massiven wirtschaftlichen Druck ausgesetzt haben und letztlich für viele Geschäftsaufgaben und Ladenleerständen in den Innenstädten zumindest mitverantwortlich sind.
![](https://stadtundwirtschaft.de/wp-content/uploads/2025/02/20241207_181618-1024x576.jpg)
Die neue Situation.
Sind die Zielsetzungen vieler kommunaler Einzelhandelskonzepte obsolet?
Wenn in der innerstädtischen Leitbranche Fashion & Accessoires, welche in jedem kommunalen Einzelhandelskonzept den sog. zentrenrelevanten Sortimenten zugerechnet wird und somit ein entsprechendes Angebot den städtebaulich integrierten zentralen Versorgungsbereichen vorbehalten sein soll, das Online-Shopping bereits heute schon solche enormen Marktanteile erzielt, dann drängt sich eine Frage geradezu auf: Wie soll ein solches Einzelhandelskonzept seine planerische Steuerungswirkung entfalten, wenn bereits über 40 % des gesamten Branchenumsatzes dieses für die zentralen Lagen wichtigsten Sortiments überhaupt nicht durch den stationären Handel gebunden wird? Spielt es da noch eine Rolle, ob weitere Kaufkraft für Mode bei Fachmärkten an der städtischen Peripherie landet? Sind Einzelhandelskonzepte durch die Digitalisierung obsolet geworden?
Der Blick auf die Versorgungsfunktion reicht nicht mehr
Abgesehen von Themen der Nahversorgung, welche sich nur auf den kurzfristigen Bedarf beziehen, werden Einzelhandelskonzepte allein zur Sicherung der Versorgung der Bevölkerung und zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse offensichtlich nicht mehr benötigt. Es spricht vieles dafür, dass es mit dem Online-Shopping eine neue Vertriebsform des Einzelhandels gibt, welche diese Aufgaben genauso gut, vielleicht sogar besser bewältigen kann als der stationäre Handel. Fazit: eine Versorgungsaufgabe trägt als Begründung für einen Steuerungsanspruch der Raumordnung im Einzelhandel zumindest für die Sortimente des mittel- und langfristigen Bedarfs nicht mehr.
Eine neue Schwerpunktsetzung
Wenn diese These so richtig ist, ist ein Paradigmenwechsel erforderlich. Die Versorgungsbedeutung des stationären Handels ist bezogen auf die innerstädtischen Leitsortimente gesunken und wird noch weiter sinken. Wird der entsprechende stationäre Handel dann überhaupt noch gebraucht? Konsequent zu Ende gedacht, müsste die Schlussfolgerung doch lauten: eigentlich nein, zur Versorgung der Bevölkerung wird der stationäre Handel nicht mehr unbedingt gebraucht. Aber dieser vielleicht ketzerische Gedanke darf über etwas anderes nicht hinwegtäuschen. Der stationäre Handel ist nicht nur für die Versorgung da. Dieser Handel gewinnt eine neue Funktion, die so neu eigentlich gar nicht ist: Während die Versorgungsfunktion nämlich zurückgeht, steigt gleichzeitig die städtebauliche Bedeutung! Was ist damit gemeint?
![Einzelhandel in der Innenstadt](http://stadtundwirtschaft.de/wp-content/uploads/2025/02/20241207_162816-768x1024.jpg)
![](http://stadtundwirtschaft.de/wp-content/uploads/2025/02/20241220_162119-1024x576.jpg)
Menschen brauchen „dritte Orte“
Der Mensch ist ein soziales Wesen. Und selbst wenn in der digitalen Welt die sozialen Medien auch in der zwischen-menschlichen Kommunikation einiges verändert haben, so ist doch unstrittig: Der persönliche, physische Kontakt der Menschen untereinander, das geplante oder auch zufällige Treffen oder auch nur die Neugier auf Begegnungen erfordern, dass physische Räume in der Form von Plätzen und Kommunikationsräumen vorhanden sind oder geschaffen werden. Es sind in einem erweiterten Sinn jene Räume, welche der amerikanische Soziologe Ray Oldenburg bereits Ende der 1980er Jahre als den „dritten Ort“ jenseits von Wohnen und Arbeiten beschrieben hat. Prädestiniert für diesen „dritten Ort“ ist die Innenstadt. Attraktive städtische Räume und Plätze, welche Urbanität und Aufenthaltsqualität vermitteln und über ein gutes Gastronomieangebot gerade auch im öffentlichen Straßenraum verfügen, sind gegenüber den Wirkungen der Online-Shops weitgehend immun.
Keine attraktive Innenstadt ohne Handel
Gastronomie und Dienstleistungen, eine besondere oder abwechslungsreiche Architektur, Kulturangebote in jeglicher Form, Sehenswürdigkeiten, öffentliche Einrichtungen, attraktive und benutzbare öffentliche Straßen, Plätze und Grünzonen etc. sind wichtige Bausteine einer Innenstadt. Aber ohne Einzelhandel wird das nicht reichen. Es ist keine attraktive Innenstadt ohne einen ebensolchen Einzelhandel vorstellbar. Gastronomie, so wichtig sie sein mag, ist letztlich nicht genug. Schaufenster und Warenauslagen des Einzelhandels ebenso wie ebenerdig zugängliche Ladenflächen sind für die Aufenthaltsqualität und Bummelatmosphäre einer Innenstadt ein unverzichtbares Element. Hieraus gewinnt der Handel seine Bedeutung für den Städtebau und partizipiert gleichzeitig an den Frequenzen, welche der handelsübergreifende Nutzungsmix schafft. Aufgabe des Einzelhändlers ist dann, diese Frequenzen zum Schritt in den Laden zu motivieren, welcher Teil des öffentlichen Raumes wird. Dies sollte dem Handel doch gelingen können, verfügt er doch auch über Wettbewerbsvorteile gegenüber dem Online-Handel.
Der stationäre Einzelhandel hat zum Beispiel die Möglichkeit,
- Bedarf zu wecken,
- leicht den haptischen Kontakt zur Ware herzustellen,
- die Auswahl durch An- und Ausprobieren zu erleichtern,
- die persönliche Beratungsfunktion,
- die Warenkombinationsfunktion,
- die Ladengestaltung, die es häufig mit jeder Website aufnehmen kann usw.
Das mag nicht für alle Waren und für alle Verbraucher ausschlaggebend sein, aber doch für viele. Den Begriff zur Umwandlung von Frequenzen in Umsätze gibt es schon: Konversionsrate.
![](https://stadtundwirtschaft.de/wp-content/uploads/2025/02/20240614_050439-1-1024x725.jpg)
![](http://stadtundwirtschaft.de/wp-content/uploads/2025/02/20240614_053205-1024x1024.jpg)
Planerischer Steuerungsanspruch muss erhalten bleiben
Damit sollte auch klar sein: eine Reduktion des kommunalen Steuerungsanspruchs in der Einzelhandelsentwicklung darf auch in Anbetracht eines Marktanteils des Online-Shoppings bei dem innerstädtischen Leitsortiment Mode & Accessoires von über 40 % nicht erfolgen. Das Argument, eine verweigerte Genehmigung für einen zentrenrelevanten Einzelhandelsbetrieb im Gewerbegebiet würde dazu führen, dass das Internet noch mehr Marktanteile gewinnt, reicht nicht. Denn ein solcher Standort wird einen weiteren Umsatzzuwachs des Internets nicht verhindern. Hier sind andere Maßnahmen gefordert.
Neue Themenschwerpunkte für Einzelhandelskonzepte
Was bedeutet dies für Einzelhandelskonzepte? In der inhaltlichen Ausrichtung dieser Konzepte ist ein Paradigmenwechsel dahingehend notwendig, deutlich stärker auf die städtebauliche Bedeutung des Handels bzw. auf den Beitrag des Handels zu einer attraktiven städtebaulichen Situation v.a. in der Innenstadt zu reflektieren, weniger stark auf die Versorgungsbedeutung und –leistung. Dies wird gerade auch bei strittigen Genehmigungsverfahren vor dem Hintergrund der aktuellen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes (Urteil vom 30.01.2018, Rs. C-31/16, Visser / Appingedam) und den Anforderungen aus der Umsetzung der Dienstleistungsrichtlinie zunehmend wichtiger werden.
Eine neue Lust „Stadt“ zu erleben
Zum Einkaufen muss heute niemand mehr in die Innenstadt. Es braucht andere Motive: eine neue Lust auf Stadt und Urbanität, getragen von der Möglichkeit zum gemeinsamen Bummeln, dem Gastronomiebesuch, dem zufälligen oder arrangierten Treffen von Freunden und Bekannten, vielleicht aber auch nur getragen von der Neugier auf unerwartete Erlebnisse. Innenstadträume, welche den Bewohnern und Besuchern solche Anreize bieten, sind dann die „dritten Orte“, sind identitätsstiftende Agora und Bürgerforum, sind durch den sozialen Austausch somit auch wesentliche Grundlage eines demokratischen Gemeinwesens. Ohne Handel wird dies nicht gehen, nur mit Handel auch nicht. Dazu braucht es mehr! Darauf müssen zukunftsorientierte Einzelhandelskonzepte reagieren und für die Stadtentwicklungsplanung Antworten finden. Für den innerstädtischen Handel muss eine ökonomische Basis gegeben sein, die geeignete Standortbedingungen, Nachbarschaften, Aufenthalts- und Erlebnisqualitäten erfordert, welche er nicht selbst allein schaffen kann, zu der er aber selbst einen wesentlichen Beitrag liefert. Ohne steuernde und gleichzeitig investive sowie gestaltende kommunale Maßnahmen wird dieses Ziel für viele Städte jedoch unerreichbar bleiben.